Der Krieg zwischen Russland und Georgien brachte den Kaukasus ab August 2008 für einige Monate in die Schlagzeilen. Hochrangige Politiker – darunter Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, damals auch EU-Ratspräsident, und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel – besuchten die georgische Hauptstadt Tiflis; Sarkozy erwirkte gegenüber Russlands Präsident Dimitri Medwedew ein Friedensabkommen. Die NATO unterbrach die Zusammenarbeit mit Russland. Die EU warnte, es sei kein „Business as usual“ mit Russland mehr möglich. Doch ein Jahr später interessiert man sich für den Kaukasus kaum mehr. Die NATO hat die Zusammenarbeit mit Russland wieder aufgenommen, zwischen der EU und Russland geht es weiter wie zuvor. Dabei hat Russland keinen einzigen Schritt auf den Westens zu gemacht.
Autor
David Apradsidze
ist Politikwissenschaftler und leitet das caucasus Institute for Peace, Democracy and Development in Tiflis (Georgien).
Was hat dieser Krieg am Status quo im gesamten Kaukasus geändert und wie stabil ist die Lage heute? Das muss man vor dem Hintergrund der Geschichte der Region sehen. Der Südteil des Kaukasus umfasst die drei Staaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien. Der nördliche Teil gehört dagegen zu Russland mit den Gebieten Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien, Nordossetien-Alanien, Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien sowie Adygeja in der Region Krasnodar. Der Nordkaukasus ist als der turbulenteste Gürtel Russlands bekannt. Besonders in seinem Osten sind täglich Anschläge und Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und diversen Milizen zu melden. Die Region ist auch für ihre ethnische Vielfalt bekannt – Dagestan mit Dutzenden Sprachen und Volksgruppen ist ein Paradebeispiel dafür.
Der Kaukasus war sehr oft Schauplatz der machtpolitischen Konkurrenz. Im Laufe der Jahrhunderte wurde er sowohl politisch als auch kulturell von Persien und vom Osmanischen Reich beherrscht und beeinflusst. Im 19. Jahrhundert brachte Russland die Region unter seine Kontrolle. Die Zeit unter der russischen Herrschaft war relativ stabil, aber nicht friedlich – das Zarenreich führte mehrere Kriege mit Osmanen und Persern um die weitere Expansion und lernte lokale Rivalitäten zwischen verschiedenen Volksgruppen im Kaukasus für sich auszunutzen. Dennoch brachte die russische Herrschaft im 19. Jahrhundert eine gewisse Entwicklung. Russland war damals viel fortschrittlicher als das Osmanische Reich oder das zersplitterte Persien. Der Kaukasus genoss freien Zugang zur Außenwelt – viele Kaukasier reisten zum Studium nach Europa, und Europäer kamen in die Region, um Geschäfte zu machen.
Bildung nationaler Republiken und Gebiete
Erst mit der Gründung der Sowjetunion wurde die Region von der Außenwelt abgekapselt. Nach der Machtübernahme durch die Bolschewiken in St. Petersburg erklärten die südkaukasischen Republiken ihre Unabhängigkeit. Allerdings erwies sich das als kurzlebig: Aserbaidschan und Armenien wurdenschon 1920, Georgien 1921 von der Roten Armee erobert. Die Sowjetmacht etablierte dort nationale Republiken in den heutigen, völkerrechtlich anerkannten Grenzen, gleichzeitig aber autonome Gebiete innerhalb dieser Republiken für die jeweiligen Minderheitenvölker. Mit diesem Matrjoschka-Ansatz – benannt nach den ineinander verschachtelten russischen Puppen – setzte der Kreml die Nationalitätenpolitik der Zarenregierung fort. Das Ziel war, Rivalitäten zwischen verschiedenen Ethnien mit Hilfe staatlicher Institutionen zu verstärken. Dies sollte die Herrschaft Moskaus erleichtern nach dem Rezept „teile und herrsche“. Die Sowjetunion bestand aus zuletzt 15 Teilrepubliken, von denen 14 drei Regionen um das Zentrum Russland bildeten: osteuropäische wie die Ukraine, Weißrussland und Moldawien; sowjetisch Zentralasien; sowie Armenien, Aserbaidschan und Georgien im Südkaukasus. Aufgrund seiner ethnischen und religiösen Vielfalt war der Kaukasus besonders konfliktträchtig.
Nord- und Südkaukasus verkehrten bis Ende der 1990er Jahre sehr intensiv miteinander. Erst seit der Auflösung der Sowjetunion ist der Kaukasus zwischen Süd- und Nordteil geteilt. Trotzdem bleiben Nord- und Südkaukasus in vieler Hinsicht miteinander verbunden – schon weil die Staatsgrenzen nicht mit denen der Siedlungsgebiete übereinstimmten.
Die Auflösung der Sowjetunion ließ in und unter den südkaukasischen Republiken Konflikte aufflammen. Der Matrjoschka-Ansatz trug hier Früchte: Armenier und Aserbaidschaner führten brutal Krieg um Berg-Karabach, eine armenische Enklave in Aserbaidschan; Osseten und Abchasen in Georgien widersetzten sich den Unabhängigkeitsbestrebungen Georgiens von Russland, so dass auch hier Kriege ausbrachen. Die Staatengemeinschaft interessierte sich dafür kaum. Dazu trugen die gleichzeitigen Kriege auf dem Balkan bei, aber auch die westliche Politik des „Russland zuerst“. So bekam Russland freie Hand für das Konfliktmanagement im postsowjetischen Raum. Es ist heute ein offenes Geheimnis, dass Moskau stillschweigend sowohl Südosseten als auch Abchasen gegen Tiflis unterstützte. Zwar wurde die UN-Beobachtungsmission in Abchasien und die OSZE-Mission in Südossetien schon Anfang der 1990er etabliert, sie konnten aber die russische Vormacht kaum relativieren. Das russische Militär war die einzige Friedenssicherung in beiden Provinzen.
Russlands „Nahes Ausland“
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre änderte sich ungeachtet einzelnen Eskalationen wenig am Status quo; beide Konflikte in Georgien wurden ebenso wie der in Berg-Karabach als „eingefroren“ bezeichnet. Russland widersetzte sich etlichen internationalen Versuchen, eine Konfliktlösung voranzutreiben. Für Moskau galt der Südkaukasus ebenso wie der ganze frühere sowjetische Raum als Zone der besonderen Interessen – russische Politiker und Experten erfanden dafür den Ausdruck „Nahes Ausland“. Hier sollten keine anderen Mächte Einfluss erlangen. Um das zu verhindern, sollten, solange Russland geschwächt blieb, Konflikte und innenpolitische Turbulenzen für die Abkapselung der ehemaligen Sowjetrepubliken sorgen.
Doch der Status quo blieb nicht auf Dauer stabil. Seit Mitte der 1990er Jahre zogen der Südkaukasus und Zentralasien mit großen Energieprojekten das internationale Interesse auf sich. Öl- und Gaspipelines verbanden den Raum um das Kaspische Meer zu einer neuen Region. Russland widersetzte sich vehement diesen Projekten und versuchte Alternativen zu entwickeln. Dennoch wurden Öl- und Gaspipelines von Baku (Aserbaidschan) über Tiflis nach Ceyhan beziehungsweise Erzurum in der Türkei gebaut. Allerdings gelingt es Russland bis heute, das an Gasvorkommen reiche Zentralasien östlich des Kaspischen Meeres, das Gas in die Pipelines einspeisen könnte, aus diesen Projekten fernzuhalten. So kann Russland sein Monopol für die Gasversorgung Europas vorübergehend sichern. Das ist der Grund, warum Russland die Nabucco-Pipeline, die den Kaspischen Raum mit Europa verbinden soll, so fürchtet.
Die Energiepolitik und geostrategische Überlegungen brachten alte und neue Mächte in die Region. Besonders aktiv wurden die Türkei und mit der Zeit die USA. Dies verschaffte den kleinen Staaten im Kaukasus, vor allem Georgien, mehr Spielraum. Erst unter der Präsidentschaft von Eduard Schewardnadse (1995-2003) trieb die Regierung in Tiflis eine ausgeprägt prowestliche Außenpolitik und hoffte am Ende sogar auf einen Beitritt zur NATO.
2003 musste Schewardnadse nach langen Demonstrationen der Opposition zurücktreten. Die neue Regierung unter dem charismatischen Präsidenten Saakaschwili machte zwar den ersten Besuch in Moskau, stärkte aber parallel die prowestliche Ausrichtung Georgiens. Die neue Regierung strebte die Stärkung der staatlichen Institutionen des faktisch „gescheiterten Staates“ an und erzielte sichtbare Erfolge in dieser Richtung – die Bekämpfung der Korruption und die Reform des Sicherheitssektors einschließlich der Polizei und der Armee werden bis heute als Saakaschwilis Verdienste gesehen. Seine Regierung erhob die Wiederherstellung der territorialen Integrität Georgiens zu ihrem Ziel und konnte den Status quo nicht hinnehmen.
Drei Jahren zuvor hatte der relativ junge Wladimir Putin die Macht in Russland übernommen. Er wollte nicht mit der Demokratie à la Jelzin weiterleben, die für ihn Chaos und Zusammenbruch bedeutete, sondern für sein Land die Rolle der Supermacht zurückgewinnen. Dies sollte durch die Wiederherstellung des Einflusses im gesamten postsowjetischen Raum geschehen. Hierzu passten weder der alternative Energiekorridor durch den Südkaukasus – also um Russland herum – noch die NATO-Ambitionen Georgiens. Die Eskalation der Konflikte in Georgien schien schon im Jahr 2004 unvermeidlich. Georgien erstarkte, strebte eine Lösung der Konflikte an und verheimlichte seine NATO-Beitrittsambitionen nicht mehr. Zugleich fühlte sich Russland durch die hohen Ölpreise gestärkt, versprach den von Georgien abtrünnigen Republiken Beistand und warnte den Westen davor, Georgien an die NATO anzubinden. Die Staatengemeinschaft diskutierte zwar verstärkt über das Problem, schien aber nicht bereit, Friedenstruppen oder Polizei für einen Prozess der Friedenssicherung zu entsenden.
Kontrolle über die Energievorkommen
Georgien kommt im Machtspiel in der Region eine Schlüsselrolle zu. Mit der Kontrolle über dieses Land würde Russland alle Energieprojekte stoppen, Aserbaidschan mit seinen Energievorkommen unter seine Kontrolle bringen und den Zugang zu Zentralasien schließen. Dies würde die Energieabhängigkeit Europas von Russland langfristig festschreiben und hätte auch strategische Komplikationen zur Folge: Es würde die USA, die in Kriege im Irak und Afghanistan verwickelt sind, von Moskaus Beistand abhängig machen. So hat Moskau 2009 versucht, die Regierung Kirgistans zur Schließung eines Militärstützpunkts der USA zu bewegen, der enorme Bedeutung für die Versorgung des US-amerikanischen Militärs in Afghanistan hat.
Mit der Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien im Frühjahr 2008 hat die Kriegsvorbereitung im Kaukasus begonnen. Putin verheimlichte nicht, dass er Kosovo als Präzedenzfall betrachtete und Russland sich dadurch legitimiert sah, Abchasien und Südossetien auch als neue Staaten anzuerkennen. Schon seit Jahren wurden russische Pässe an Bewohner beider Provinzen ausgehändigt, so dass Russland den Schutz seiner Staatsbürger als Vorwand für die Einmischung nutzen konnte. Moskau baute seine Militärpräsenz erst in Abchasien, dann auch im Südossetien aus. Anders als zu Beginn der 1990er Jahre war der russische Beistand kein Geheimnis mehr. Im Gegenteil, Moskau beherrschte die Lage – die abchasische und südossetische Regierung und ihre Milizen spielten keine Rolle mehr. Am Ende gab es keine georgisch-abchasischen und georgisch-ossetischen Konflikte mehr – beide waren endgültig Bestandteile des russisch-georgischen Konflikts geworden.
Der Krieg begann in Südossetien – eigentlich unerwartet, weil militärische Vorbereitungen auf Abchasien als möglichen Schauplatz hindeuteten. Die Konflikte sind zwar ähnlich, unterscheiden sich aber wesentlich voneinander. Erstens ist Abchasien das einzige Territorium für Abchasen, während die historische Heimat der Osseten Nordossetien ist, das zur Russischen Föderation gehört. Daher war der abchasische Nationalismus stärker verwurzelt als der ossetische. Zweitens bildeten Abchasen die Minderheit in Abchasien, wo Georgier vor dem Kriegsausbruch beinahe die Hälfte der Bevölkerung stellten. Dagegen waren in Südossetien die Osseten in der Mehrheit. So war das Misstrauen gegenüber Georgiern unter Abchasen größer als unter Osseten. Noch heute leben mehr Osseten in anderen Teilen Georgiens als in Südossetien selbst. Auch der Krieg am Anfang der 1990er Jahre hatte die Kontakte und den Verkehr zwischen den Ethnien nicht unterbrochen.
Der Krieg im August 2008 endete nach fünf Tagen. Russland besetzte dabei Teile Georgiens, die weit von den Sezessionsgebieten entfernt waren. Russische Panzer kontrollierten zeitweise die Hauptverbindungsstraße zwischen dem Westen und dem Osten des Landes sowie den wichtigen Hafen Poti. Mehrere tausend Menschen flohen aus Südossetien nach Tiflis. Dieser Krieg bedrohte das, was Saakaschwili als größte Errungenschaft seiner Regierung betrachtete und Putin als Herausforderung für die russische Machtstellung in der Region ansah: einen erfolgreichen georgischen Staat. Und er hat die Illusionen beendet, man könne die beiden Konflikte lösen und dabei die territoriale Integrität Georgiens erhalten. Nun stellt sich die Frage nach der Souveränität Georgiens und der Zukunft seines Staates.
Die EU verhandelte mit Russland und erzielte einen Teilerfolg: Die russischen Panzer rollten aus dem georgischen Kernland zurück. Sie blieben aber in den Sezessionsgebieten; Moskau erkannte deren Unabhängigkeit an und begann dort Militärstützpunkte einzurichten. Die EU schickte zwar eine zivile Beobachtungsmission. Aber Moskau verweigert ihr den Zugang zu den Konfliktzonen – sie kann nur entlang der de-facto-Grenzen zu Abchasien und Südossetien operieren. Die Verlängerung der UN- und OSZE-Missionen für Abchasien beziehungsweise Südossetien, die seit den 1990er Jahren im Einsatz waren, hat Moskau Mitte 2009 mit seinem Veto gestoppt. Moskau spricht von einem neuen Status quo und beharrt darauf, die Staatengemeinschaft habe ihn anzuerkennen.
Sarkozys Friedensplan ist also nicht umgesetzt worden; im Gegenteil, Moskau baut seine Militärpräsenz in Abchasien und Südossetien aus. Dennoch ist die EU-Mission ein Erfolg – die einzige diplomatische Abwehr für Georgien zur Zeit. Wichtig ist auch, dass die Brüsseler Geberkonferenz 2008 Georgien 4,5 Milliarden US-Dollar für den Aufbau nach dem Krieg in Aussicht gestellt hat.
Doch ein Jahr nach dem August 2008 ist wieder von Krieg die Rede. Politiker, Experten aber vor allem einfache Menschen fürchten einen neuen Kriegsaubruch. Die Realpolitik stellt sich aus Moskaus Sicht ziemlich einfach dar: Wird Russland „seinen ersten Erfolg nach dem Ende des Kalten Krieges“ verzeichnen, wie ein Experte des Kreml es im August 2008 nannte? Sollen die EU und die USA eine erste Niederlage hinnehmen und sich auf weitere vorbereiten? Georgien kommt eine Schlüsselrolle zu: Sein Überleben als moderner westlicher Staat ist – wie im Falle vieler anderer Staaten im ehemaligen sowjetischen Raum – eine Frage des Rechts, die Zukunft frei zu wählen und neue Trennlinien zu vermeiden.